Das Potenzial der verborgenen Mitte erschließen: Ein Schlüssel zur globalen Ernährungssicherheit

Von Thomas Reardon, renommierter Professor an der Michigan State University und externer Senior Research Fellow am International Food Policy Research Institute

Wenn wir über Ernährungssicherheit sprechen, konzentriert sich die Diskussion oft auf Landwirte und Verbraucher. Dabei wird jedoch ein wichtiger Teil des Lebensmittelsystems häufig übersehen – die „verborgene Mitte.” Dieses Midstream-Segment der Lebensmittel-Lieferkette umfasst die Lebensmittelverarbeitung, Verpackung, den Großhandel, die Vermittlung und die Logistik. Hier werden landwirtschaftliche Rohprodukte transformiert, transportiert und für Menschen überall zugänglich gemacht. Es ist an der Zeit, diesem Segment die Aufmerksamkeit zu schenken, die es verdient.

Was ist die verborgene Mitte und warum ist sie so wichtig?

Die verborgene Mitte besteht sowohl aus großen Unternehmen als auch aus unzähligen Kleinst-, Klein- und Mittelstandsunternehmen (KKMU). Diese Unternehmen sind das Rückgrat der Lebensmittelsysteme sowohl in Ländern mit hohem Einkommen (dem globalen Norden) als auch in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen (dem globalen Süden).

2015 prägte ich den Begriff „verborgene Mitte”, um die veraltete Vorstellung einer „fehlenden Mitte” in Frage zu stellen – eine Vorstellung, dass Midstream-Leistungen der Wertschöpfungskette entweder fehlten oder ineffizient waren, insbesondere im globalen Süden1. In Wirklichkeit fehlt die verborgene Mitte überhaupt nicht. Sie floriert, entwickelt sich weiter und spielt eine absolut zentrale Rolle dabei, wie Lebensmittel vom Erzeuger auf den Tisch kommen.

Die Rolle der verborgenen Mitte für die Ernährungssicherheit

Betrachten wir einmal, wie die verborgene Mitte die Ernährungssicherheit in drei wesentlichen Dimensionen unterstützt:


1.
Versorgung der Verbraucher mit nahrhaften, erschwinglichen Lebensmitteln
In vielen Ländern, insbesondere im globalen Süden, wird in Debatten über Ernährungssicherheit oft die Rolle der Lebensmittel-Lieferketten und damit auch die der verborgenen Mitte übersehen. Es herrscht ein weit verbreitetes Missverständnis, dass Haushalte in ländlichen Gebieten hauptsächlich das konsumieren, was sie selbst anbauen. Untersuchungen zeigen jedoch, dass in Afrika etwa 60 % der Lebensmittel gekauft und nicht selbst produziert werden. In Asien und Lateinamerika beträgt dieser Anteil sogar 80 %.

Das bedeutet, dass der Großteil der konsumierten Lebensmittel – sowohl in Städten als auch in ländlichen Gebieten – über Lieferketten und damit über die verborgene Mitte bezogen wird. Tatsächlich werden 40 bis 60 % der Gesamtkosten und der Wertschöpfung in den Lebensmittel-Lieferketten in der verborgenen Mitte generiert. Das ist ein großer Anteil der nationalen Ernährungssicherheit, der in politischen Diskussionen oft nicht vorkommt.

2. Transformierung von Lebensmitteln, um den Bedürfnissen der Verbraucher gerecht zu werden
Über den Transport von Lebensmitteln hinaus schafft die verborgene Mitte durch Verarbeitung und Verpackung einen Mehrwert. Beispiele hierfür sind Milchprodukte, Säfte und verzehrfertige Mahlzeiten, die alle durch Midstream-Leistungen ermöglicht werden. In den Ländern des globalen Südens hat sich der Wandel von privat hergestellten zu verpackten Lebensmitteln in den letzten zwei Jahrzehnten beschleunigt.

Nehmen wir den brasilianischen Milchsektor als Beispiel. In den 1990er und 2000er Jahren stieg die Milchproduktion sprunghaft an, die Preise fielen und der Konsum verbreitete sich landesweit. Der Markt verlagerte sich vom informellen zum formellen Sektor und von frischer zu verpackter UHT-Milch. Diese Transformation wurde durch Innovationen im Bereich der Verpackung, Investitionen von Unternehmen wie Tetra Pak und die Zusammenarbeit zwischen Verarbeitern, Einzelhändlern und Verpackungsunternehmen vorangetrieben. Das Ergebnis? Besserer Zugang zu nahrhaften Milchprodukten für Millionen von Menschen, darunter auch Haushalte mit niedrigem Einkommen.

3. Befähigung von Landwirten zu Investitionen und Wachstum
Landwirte verkaufen selten direkt an Verbraucher oder Einzelhändler. Ihre engste Verbindung besteht oft zu Unternehmen der verborgenen Mitte – Verarbeitern, Verpackern und Großhändlern. Diese Unternehmen bieten nicht nur Absatzmärkte, sondern auch Anreize, Standards und Unterstützungsleistungen wie Transport, Kredite und Informationen.

In Brasilien veranlassten steigende Qualitätsstandards im Milchsektor die landwirtschaftlichen Betriebe dazu, ihre Technologie zu modernisieren und ihren Betrieb zu erweitern. In Polen halfen Molkereiunternehmen kleinen Betrieben dabei, neue Anforderungen zu erfüllen. Diese Beispiele zeigen, wie die verborgene Mitte sowohl Innovationen als auch Investitionen auf Ebene der landwirtschaftlichen Betriebe vorantreiben kann – oft effektiver als staatliche Maßnahmen oder Schulungsprogramme.

4. Stärkung der Resilienz und Nachhaltigkeit
Die verborgene Mitte spielt außerdem eine entscheidende Rolle dabei, Lebensmittelsysteme resilienter und nachhaltiger zu machen. Durch Investitionen in Technologien, die Verderb reduzieren, die Energieeffizienz verbessern und die Umweltbelastung minimieren, tragen Unternehmen der verborgenen Mitte dazu bei, Lieferketten zu stabilisieren und Abfall zu reduzieren.

Ihre Entscheidungen, von Verpackungsmaterialien bis hin zu Energiequellen, prägen den CO2-Fußabdruck des gesamten Lebensmittelsystems. Ferner können sie durch Verträge und Partnerschaften Landwirte und Lieferanten bei der Einführung nachhaltiger Praktiken unterstützen.

Zukünftige Herausforderungen und Chancen

Trotz ihrer Bedeutung steht die verborgene Mitte vor erheblichen Herausforderungen:

Anfälligkeit für globale Schocks: Grenzüberschreitend tätige Midstream-Unternehmen sind anfällig für Handelsstörungen, Klimaereignisse und politische Veränderungen. Die Bewältigung dieser Schocks erfordert kostspielige Investitionen in Infrastruktur und Diversifizierung, was zu einer Marktkonzentration führen kann.

Umgang mit Vorschriften und Nachhaltigkeitszielen: Unternehmen müssen ein Gleichgewicht zwischen Effizienz, Sicherheit und Umweltbelastung finden. Beispielsweise müssen Verpackungen verderbliche Waren schützen und gleichzeitig Umweltvorschriften erfüllen. Dies erfordert ständige Anpassungen und Innovationen.

Infrastruktur und Geschäftsumfeld: In vielen Teilen des globalen Südens kämpfen KKMU in der verborgenen Mitte mit mangelhaften Straßen, unzuverlässiger Stromversorgung, begrenztem Zugang zu Krediten und Sicherheitsproblemen. Diese Hindernisse erhöhen die Kosten und Risiken und hemmen Wachstum und Innovation.

 

Ein Aufruf zum Handeln für politische Entscheidungsträger und Partner

Die verborgene Mitte ist nicht nur ein Glied in der Kette. Sie ist ein starker Motor für Transformation. Dennoch wird sie in Strategien zur Ernährungssicherheit nach wie vor zu wenig genutzt. Um ihr volles Potenzial erschließen, brauchen wir:

Investitionen in die Infrastruktur – sowohl in die harte (Märkte, Straßen, Energie) als auch in die weiche (Sicherheit, Finanzen, Ausbildung). Stabile, unterstützende politische Maßnahmen, die Unsicherheiten verringern und Innovationen fördern. Anerkennung der Rolle der verborgenen Mitte bei der Gestaltung der Resultate für Landwirte, Verbraucher und die Umwelt. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, florieren die Unternehmen der verborgenen Mitte – und mit ihnen die von ihnen unterstützten Lebensmittelsysteme.

Thomas Reardon

Dr. Thomas Reardon ist renommierter Professor an der Michigan State University (MSU).
Tom Reardon ist seit 1992 an der MSU tätig; 1986–1991 war er Forschungsstipendiat am IFPRI; 1984–1986 war er Postdoktorand der Rockefeller Foundation am IFPRI in Burkina Faso; 1984 promovierte er an der UC Berkeley und erwarb einen Master-Abschluss an der Université de Nice und der Columbia University.
Tom Reardon erforscht die Transformation von Lebensmittelwertschöpfungsketten: (1) E-Commerce und Lebensmittel-Lieferdienste; (2) die „Supermarkt-Revolution” und die „Food-Service-Revolution”; (3) die „Stille Revolution” (die Verbreitung von KMU im Midstream der Wertschöpfungsketten); und (4) F&E und der Wandel der Lieferkette für landwirtschaftliche Betriebsmittel. Er untersucht die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Geschäftsstrategien der Lebensmittelindustrie, auf landwirtschaftliche Betriebe, Konsum/Ernährung und Arbeitsplätze.  

Fußnoten

1 Reardon, Thomas. (2015). The hidden middle: The quiet revolution in the midstream of agrifood value chains in developing countries. Oxford Review of Economic Policy. 31. 10.1093/oxrep/grv011.

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